Jenseits des Ozeans: Kapitel 1

 

Der Anblick seines kleinen Bruders mit dem Strohhalm in der Nase brachte das Fass zum Überlaufen.

Troys Oberschenkel brannten vom Training und weil er die Treppen zum obersten Stockwerk im Laufschritt genommen hatte, als er Tyson anstarrte, der nur in seinen Boxershorts auf dem Boden kniete und weißes Pulver von einem Handspiegel auf dem Couchtisch sniffte. Die Tür von Tysons Hotelsuite schlug hinter Troy zu, der in seinen verschwitzten Trainingsklamotten da stand wie angewurzelt. Selbst, wenn er in der Lage gewesen wäre, etwas anderes zu äußern als gebrüllte Flüche, dröhnten die Rolling Stones zu laut, als dass jemand ihn hätte hören können.

Die Vorhänge waren zugezogen und schirmten den Wohnbereich gegen die Sonne und jegliche Kameraobjektive ab. Gläser und Flaschen bedeckten sämtliche Oberflächen, und der Gestank von Zigaretten und Gras hing schwer in der Luft. Ein paar Mädchen in knappen Shorts und bauchfreien Tops lümmelten auf der Couch mit Nick, der der beste Tänzer der Band und ein ganz passabler Sänger war. Wie das lebendig gewordene Klischee einer MTV-Doku.

Der Umstand, dass eine der Frauen auf dieser heimlichen Party Troys Freundin war, ließ seinen Zorn nur noch mehr aufwallen. Er hatte gedacht, dass Savannah nicht mehr konsumierte als ein bisschen Alkohol und einen gelegentlichen Joint, aber hier war sie nun. Ihm drehte sich der Magen um angesichts ihres Betruges, und er wusste nicht, ob er eher verletzt oder wütend war.

Eines der Groupies hob ihren Kopf und starrte Troy mit glasigen Augen an. Auf dem Boden lag eine weggeworfene Nadel direkt neben ihren schlaff herunterhängenden Fingern. Savannah folgte ihrem Blick und sprang so hastig auf die Füße, dass ihre langen Locken durch die Luft wirbelten und eine ihrer Brüste aus dem Trägertop rutschte. Ihre Pupillen waren zu groß und ihre blauen Augen zu hell. Sie trug Make-up, so wie immer, aber ihre Lippen schienen unnatürlich rot zu sein.

„Troy!“ Sie rückte hektisch ihre Kleidung zurecht, während sie gleichzeitig mit einem Fuß nach Nick trat, der komplett weggetreten war: Sein Kopf war zurückgeworfen, und sein Mund hing weit offen. Das blonde Haar war matt und ungewaschen, und seine Haut wirkte fahl im künstlichen Licht der Zimmerlampen.

Nicks Feierei hatte auf dieser Tour dramatische Ausmaße angenommen und, Scheiße, Troy hätte etwas dagegen unternehmen müssen. Nick war Tys bester Freund und sein schlimmster Einfluss. Troy hätte voraussehen müssen, dass so etwas passieren würde. Er hätte zu Joe gehen sollen, denn dafür waren Manager schließlich da. Aber er hatte keinen Ärger machen wollen. Er hatte sich eine Scheibe von seiner Mutter abgeschnitten und den Kopf in den Sand gesteckt.

Aber die beschissene Wahrheit war, dass Joe und die Plattenfirma längst Bescheid wussten. Natürlich wussten sie es, mit der Crew und dem ganzen Personal, das auf dieser Tour arbeitete. Die Bandmitglieder von Next Up konnten nicht einmal niesen, ohne dass die komplette Entourage es mitbekam. Sie wussten es, und sie hatten nicht das Geringste unternommen.

Nick grunzte und murmelte irgendetwas, und Troy hätte ihn am liebsten mit bloßen Händen in Stücke gerissen und anschließend seinen dummen, verantwortungslosen Hintern zum Entzug geschleift, zusammen mit Ty.

Savannah stürzte sich auf das iPod-Stereodock, das auf der vollgemüllten Bar stand, und drückte den Knopf. In der plötzlichen Stille riss Tyson den Kopf hoch und sah vom Boden her zu Troy auf, immer noch mit dem Strohhalm in der Hand.

Tyson war wie ein Spiegel von Troy als Teenager. Sie hatten beide dunkles, lockiges Haar, aber weil jedes Bandmitglied einen anderen Look haben musste, trug Troy seins kurzgeschoren, und Ty ließ es engelhaft herabwallen. Sie hatten die gleichen dunkelbraunen Augen und die gleiche gebräunte Haut. Und ihre ovalen Gesichter ähnelten einander bis hin zu dem kleinen Grübchen im Kinn. Aber Tyson war gute zehn Zentimeter kleiner als Troy, und fünfzig Pfund leichter. Mit zweiundzwanzig war er immer noch das Nesthäkchen der Band, ein hübscher Junge und der harmlose Schwarm von jungen Mädchen weltweit.

Troy wollte ihn sich über die Schulter werfen und nach Hause schleifen. Ihn einsperren.

Tyson leckte sich die Lippen. Seine Stimme klang gebrochen. „Hey, Mann. Wir haben nur … ist keine große Sache, BT.“

Kurzform für „Big T“, der Spitzname, den Troy von den Fans bekommen und den die Band aufgegriffen hatte. Er starrte auf seinen kleinen Bruder herab. An Tysons Nasenflügeln klebte Kokainpulver wie Staub. Savannah griff nach Troy. Als sich ihre Finger mit den rot lackierten Nägeln um sein Handgelenk schlossen, merkte Troy, dass er seine Fäuste so fest geballt hatte, dass seine stumpfen Fingernägel beinahe die Haut seiner Handflächen durchbohrten. Er schüttelte Savannah ab und stieß scharf den Atem aus.

Sie atmete heftig. „Ich dachte, du würdest heute zusammen mit Thomas diese Band-Durchschneide-Nummer bei der Tierheimeröffnung machen?“

„Greg wollte die Koalas sehen, also ist er an meiner Stelle hingegangen. Ich war trainieren. Ich dachte, vielleicht könnten wir alle zusammen schwimmen gehen. Aber offensichtlich hattet ihr schon was anderes vor.“

Ty schnaufte trotzig. „Reg dich ab, Alter.“

„Mich abregen? Scheiße, ich fasse es nicht“, krächzte Troy, als hätte er Glasscherben im Hals. „Du hast es versprochen!“ Er starrte seinen Bruder an. „Du hast es mir geschworen.“

Er ignorierte Savannahs Protest und ging um sie herum. Mit einer Hand schnappte er sich Tyson und riss ihn hoch und auf die Füße, mit der anderen Hand wischte er das verbliebene Kokain vom Tisch, sodass es durch die Luft wirbelte. Er hielt seinen Bruder fest und starrte in seine riesigen Pupillen. Sie sahen so falsch aus in seinem Babygesicht. Mit groben Bewegungen untersuchte er Tysons Arme. Er griff unwillkürlich fester zu, als er die Einstichstellen fand. „Heroin? Willst du mich verarschen? Und dann Koks zum Nachtisch, damit du zum Konzert wieder fit bist?“ Er funkelte Nick an, als er hinzufügte: „War das seine beschissene Idee? Jede Wette war es das.“

Tyson schluckte hörbar. Seine Locken schwangen herum, als er den Kopf schüttelte. „Wir haben nur … das ist kein …“ Er sah zu Nick hinüber, der immer noch auf der Couch zusammengesackt war. Vom ihm war eindeutig keine Hilfe zu erwarten. „Es ist guter Stoff! Nicht so ein gefährliches Zeug wie das von der Straße. Es ist nur zum Spaß. Völlig sicher.“

„Es gibt kein sicheres Heroin! Und auch kein sicheres Koks! Egal, wie rein es ist.“

Tyson riss seinen Arm los und baute sich stirnrunzelnd auf. Die übliche, rechtschaffene Entrüstung stellte sich ein. „Du bist so ein Spielverderber. Du bist mein Bruder, nicht mein Vater. Verpiss dich einfach.“

„Du willst jetzt ernsthaft über Papa reden? Wäre er hier, dann hätte er sich ganz vorn angestellt für einen Schuss. Er ist der verdammte Grund, warum du nicht mal in die Nähe von diesem Scheiß darfst.“ Er sah Savannah finster an. „Keiner von euch.“

„Gott, sie hat nur Spaß.“ Ty machte eine wegwerfende Handbewegung. „Sie ist einfach leid, wie scheiß-langweilig du bist.“

Es hätte nicht wehtun sollen, aber das tat es. Ein eisernes Band schloss sich um Troys Lunge, und er atmete schnell und schwer. Sein Blick schoss zu Savannah, die die Augen aufgerissen hatte. „Ist das so? Gut zu wissen.“

Sie langweilt mich schon seit Monaten, flüsterte eine leise Stimme in seinem Inneren. Sie war die Vorgruppe von Next Up, und je länger sich die endlose Tournee hinzog, umso weniger hatten sie einander zu sagen. Er wusste, dass sie nicht zusammenpassten, warum also war er eigentlich noch mit ihr zusammen? Sicher, sie war wunderschön – dreiundzwanzig und hinreißend, mit festen Brüsten und einer tollen Stimme. Aber er wollte mehr.

„Natürlich nicht!“ Besagte Stimme stieg mehrere Oktaven, während sie über ihre Worte stolperte. „Troy, du weißt, dass ich dich liebe.“

Troy stand da in diesem wahnsinnig teuren Hotelzimmer am anderen Ende der Welt und wusste gar nichts mehr. Sein Zorn war abgeebbt und fühlte sich nur noch wie kleine Nadelstiche an, und zurück blieb nur die kalte Wahrheit. „Nein, tust du nicht. Und ich liebe dich genauso wenig.“

Savannah zuckte zusammen und blinzelte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Er fühlte sich auf der Stelle schuldig und versuchte, seine Stimme sanfter klingen zu lassen. „Ich sage das nicht, um dich zu verletzen. Es ist einfach nur die Wahrheit.“

„Gott, Troy. Wieso bist du nur so ein Arschloch?“ Tyson verzog das Gesicht. „Nur, weil du sauer auf mich bist, musst du nicht so gemein zu ihr sein.“

„Ist hier noch mehr Stoff?“

Alle drehten sich zu der Rothaarigen um, die ihre Beine über Nicks Schoß ausgestreckt hatte und Kaugummi kaute.

Sie zuckte benommen die Achseln. „Wenn ihr wollt, dass er es zur Show schafft, gebt ihr ihm lieber was.“

Savannah sah ganz bewusst nicht zu Troy, als sie sich räusperte. „Okay, kümmern wir uns erst einmal um Nick. Mit dem Rest können wir uns später befassen. Wir haben eine Show vor uns.“

„Nein.“ Es war so ein schlichtes Wort – nein – aber Troy konnte sich nicht erinnern, wann er es das letzte Mal zu Tyson gesagt und auch so gemeint hatte.

Gott, wahrscheinlich war das vor fünf Jahren an Troys einundzwanzigstem Geburtstag gewesen. Sie hatten in Las Vegas gefeiert, und Troy hatte einen Lapdance verweigert. Aber Tyson hatte ihm trotzdem einen gekauft, obwohl überall Leute mit ihren Handys filmten. Und obwohl er sowieso zu jung gewesen war, um in einem Stripclub zu sein. Sie hatten kurz zuvor bei den MTV Video Awards gewonnen, und Ty kam überall rein, wo er wollte.

Weil niemand Nein zu ihm sagte.

„Nein“, wiederholte Troy. Das Wort fühlte sich gut an auf seiner Zunge.

Alle Augen wandten sich ihm zu, abgesehen von Nicks – das Arschloch war immer noch bewusstlos und schnarchte.

Tysons Schneid ließ deutlich nach. Er versuchte zu lächeln. „Hör zu, wir kriegen das schon hin, BT. Wie Savannah schon sagte, wir haben eine Show vor uns. Es ist unsere letzte Nacht in Sydney.“

„Nein.“ Troy holte tief Luft. Er hatte sich entschieden, und er war fest entschlossen. „Nein“, wiederholte er. „Du hast eine Show vor dir. Ich werde weder dich noch Nick auch nur eine Minute länger bei dem hier unterstützen. Ich steige aus.“

„Whoa!“ Das andere Groupie-Mädchen auf der Couch, das bis hierhin nur völlig zugedröhnt zugesehen und gekichert hatte, hörte auf zu grinsen.

„Du kannst nicht aussteigen!“, stieß Savannah hervor. „Next Up kann ohne dich nicht auftreten. Es kommen Tausende von Fans. Du kannst uns nicht ohne Warnung hängenlassen!“

„Ich habe euch in jener Nacht in Perth gewarnt.“ Er wandte sich an Tyson, dessen Augen weit aufgerissen waren. Das Weiß darin stand in starkem Kontrast zu seinen geweiteten Pupillen. „Ich hab’s dir gesagt! Nimm noch einmal Drogen, und ich bin raus.“ Erinnerungen daran, wie er das tote Gewicht ihres Vaters die Treppen hochschleifte, kamen ihm hoch. All die Nächte, in denen er sich um ihn gekümmert hatte, um das Schlimmste von Ty und Mama fernzuhalten.

All die Nächte, in denen er hätte Nein sagen sollen.

„Ich werde nicht zusehen, wie du dein Leben in die Scheiße reitest, Ty. Ich werde dir nicht dabei helfen. Werde nicht hierbleiben und meine Rolle spielen wie der brave, kleine Soldat, während du mich anlügst.“

Tyson presste seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und hob das Kinn. „Schön. Geh. Wir werden dich nicht vermissen. Wir brauchen dich nicht. Greg kann deine Nummern singen.“ Zitternd fauchte er: „Du warst sowieso nur in der Band, weil du mein Bruder bist!“

Troy zuckte zusammen. Es war die Wahrheit – als ihr Vater die fünfköpfige Boyband aufgebaut und bei einem Label untergebracht hatte, war Tyson der Star gewesen und Troy nur Teil des Gesamtpakets. Er atmete tief ein und wieder aus und riss sich mühsam zusammen. „Ich weiß. Ich liebe dich, Ty. Ruf mich an, wenn du bereit bist, Hilfe anzunehmen.“

„Ich brauche dich nicht!“, schrie Tyson. Er wirbelte herum, hob einen Stuhl vom Boden hoch und warf ihn gegen ein verspiegeltes Kunstwerk, das an der Wand hing.

Das Glas zerbrach in tausend Stücke, und Troy wollte bleiben und die Scherben aufsammeln. Ein weiteres Erinnerungsbruchstück blitzte in seinem Verstand auf: ihr Vater, benommen und lallend. Die Versprechungen und die Lügen. Lügen, Lügen, Lügen.

Troy hatte alles versucht, um ihrem Vater zu helfen. Er war stets da gewesen, um ihm die Treppe hochzuhelfen und ihn ins Bett zu schleifen. Mama schlief in einem anderen Zimmer – sie behauptete, Papa hätte das Restless-Leg-Syndrom. Also war es Troy gewesen, der ihm die Schuhe ausgezogen hatte, der ihm geholfen hatte, sich in einen Eimer zu übergeben. Während er stets so getan hatte, als wäre alles in Ordnung. Als hätte sein Vater nur mal eine schlimme Nacht, und am nächsten Morgen würde alles wieder gut sein. Nie hatte er auch nur ein gottverdammtes Wort gesagt, bis es zu spät war.

Und dasselbe hatte er auch vor einer Woche in Perth getan, als Ty sich total mit Alk und Koks zugedröhnt hatte und die Wände hochgegangen war, bevor er schließlich zusammengebrochen war. Ty hatte danach Versprechungen gemacht, die so vertraut klangen, dass Troy seinen Vater vor sich gesehen hatte – die blonden Haare in alle Richtungen stehend und mit getrocknetem Erbrochenen auf dem Kragen.

Schuldgefühle, Bedauern und beißende Bitterkeit brachten ihn schließlich dazu, seine Füße in Bewegung zu setzen.

Es war Zeit für eine grundlegende Veränderung. Wenn er ausstieg, dann wären Joe und das Label gezwungen, etwas zu unternehmen. Dann könnten sie es nicht länger ignorieren.

Bruno, einer ihrer gigantischen Sicherheitsleute, kam in dem Augenblick hereingestürmt, als Troy die Tür erreichte. Bruno hatte vier Jahre lang für XP gearbeitet, eine drogenverrückte Rapgruppe, die die Charts genauso auseinandergenommen hatte wie ihre Hotelzimmer. Es gab nichts, was er nicht schon gesehen hatte.

„Alles in Ordnung?“, fragte Bruno ausdruckslos.

Troy nickte und schob sich an ihm vorbei in den stillen Hotelflur, von dessen Ende her sich zwei weitere Sicherheitsleute auf ihn zu bewegten. Sein Magen krampfte sich zusammen, und er stützte sich mit einer Hand an der cremefarbenen Textiltapete ab. Oh Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Konnte er das wirklich durchziehen? Würde es überhaupt helfen? Oder ließ er seinen kleinen Bruder im Stich, wenn er ihn gerade am meisten brauchte? Nein, er musste seinen Standpunkt unmissverständlich klar machen. Er musste etwas Dramatisches unternehmen. Wenn er jetzt blieb, würde Ty wissen, dass alles nur leere Drohungen gewesen waren. Troy würde nach Hause zurückkehren und ihre Mutter holen. Sie wachrütteln und ihr die Wahrheit über ihren Vater sagen, die sie nie hatte sehen wollen.

Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

„Schatz?“

Er entzog sich Savannahs Berührung, als die Wachleute näherkamen, und bellte: „Es geht uns gut!“ Als hätte er einen Zauberstab geschwungen, zogen sie sich sofort zurück. Ihre Schritte waren auf dem dicken Teppichboden kaum hörbar.

Savannah verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn aus feucht glitzernden, blauen Augen an. Sie war barfuß, und ohne ihre üblichen Absätze maß sie kaum einen Meter sechzig. „Du kannst nicht aussteigen. Was ist mit den Fans?“

Er unterdrückte das klebrige Gefühl von Schuld. „Die Fans werden wesentlich trauriger sein, wenn Ty und Nick an einer Überdosis sterben. Die beiden brauchen Hilfe, und ich muss sie zwingen, welche anzunehmen. Ich muss das Label zwingen, etwas zu unternehmen.“

„Okay, wenn die Tour vorbei ist–“

„Nein! Jetzt! Nach Australien kommt noch Nordkorea und Japan. Ich kann nicht warten. Ich werde nicht warten.“

„Aber du hast einen Vertrag. Du bist Mitglied der größten Popband der Welt! Die berühmteste seit One Direction und Backstreet zusammen. Sie werden dich nicht aussteigen lassen.“

„Dann sollen sie mich verklagen. Ist mir egal. Ich werde nicht daneben stehen und Däumchen drehen, während Ty sich umbringt. Während er und Nick auch noch dich in diese Scheiße hineinziehen. Drückst du jetzt etwa auch Heroin? Großer Gott, Sav. Ich hätte dich für klüger gehalten. Wirf nicht deine Karriere weg. Dein Leben.“

Sie schüttelte heftig den Kopf. „Ich hab’ nur ein bisschen gekokst. Ich habe ein Auge auf sie gehabt, Troy. Aufgepasst, dass nichts passiert.“

„Erspar mir das!“ Seine Nasenflügel bebten, während er versuchte, den neuen Anflug von Zorn wegzuatmen. „Aufpassen, dass nichts passiert, hätte bedeutet: aufpassen, dass sie gar nicht erst irgendwas von dem Scheißgift nehmen.“

Savannah machte den Mund auf und wieder zu. Dann presste sie ihre Lippen fest zusammen. Offensichtlich fiel ihr kein Argument mehr ein.

So leicht würde Troy sie nicht davonkommen lassen. „Du weißt, wie ich zu dem Zeug stehe. Was wir mit unserem Vater durchgemacht haben. Was ich durchgemacht habe. Ich kann das nicht noch einmal tun. Ich habe jahrelang versucht, meinen Bruder zu beschützen. Habe versucht, alles richtig zu machen, alle zufriedenzustellen.“

Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. „Ich weiß, Schatz. Die Scheiße mit deinem Vater, als du aufgewachsen bist, war furchtbar. Aber Ty braucht dich jetzt mehr denn je.“

„Damit er so weitermachen kann? Nein. Ich bin fertig damit. Mit allem.“

Ihre Lippen zitterten. „Sogar mit mir?“

„Du brauchst mich nicht. Dir wird’s prima gehen.“

„Nein, wird es nicht!“

„Ach, komm. Wir haben nichts gemeinsam. Wir ficken, und wir schauen zusammen fern, und wir– das alles ist … nett. Aber es ist nichts Echtes. Worüber reden wir denn schon groß?“

Sie schnaubte. „Hallo? Musik zum Beispiel? Wir haben tausend Sachen gemeinsam! Wir haben uns von ersten Tag an super verstanden.“

„Sicher. Der Tag, an dem Lara und die PR-Leute uns einander vorstellten? Sie haben unsere Beziehung am Reißbrett entworfen: Ohh, der starke, schweigsame, mysteriöse Bad Boy wird endlich gezähmt. Verliebt sich in den Opening Act mit der Samtstimme, Savannah Jones. Sie hat ihn erobert und sein Herz gewonnen.“

Sie biss die Zähne zusammen. Frische Tränen liefen über ihre Wangen und ließen ihre Wimperntusche verlaufen. „Habe ich das nicht? Oder hast du dir nie wirklich etwas aus mir gemacht?“

Er seufzte, erneut überwältigt von Schuldgefühlen. „Du bedeutest mir etwas. Natürlich. Ich will, dass du glücklich bist. Aber ich denke nicht, dass ich derjenige bin. Scheiße, du weißt, dass ich nicht der mysteriöse Bad Boy bin, der kaum redet. Ich bin nicht die Figur, die sie mir zugeteilt haben. Wie kann ich also der Richtige für dich sein, wenn ich selbst nicht einmal weiß, wer zum Henker ich eigentlich bin?“

„Also liegt es nicht an mir, sondern an dir.“ Sie wischte sich die Augen. „Klar. Okay. Ich hoffe, du findest zu dir selbst und das alles. Ein schönes Leben noch!“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte den Flur entlang. Dann rüttelte sie an ihrer Zimmertür. „Jemand soll sofort die Scheißtür aufmachen!“

Als einer der Sicherheitsleute herbeieilte, um ihr zu helfen, zögerte Troy. Auch wenn er Savannah nicht liebte, wollte er doch nicht, dass es so endete. Sie war ein guter Mensch und wahnsinnig talentiert, und sie verdiente jemanden, der wirklich mit ihr zusammen sein wollte. Er machte einen Schritt vorwärts, aber da war sie schon weg. Die Tür knallte hinter ihr ins Schloss, und der Sicherheitsmann nahm wieder seinen Posten ein.

Jemand räusperte sich, und als Troy sich umdrehte, sah er Bruno vor Tysons Zimmertür stehen. „Alles in Ordnung, BT?“

Nein. Es ist alles eine einzige, verdammte Katastrophe. Aber Troy nickte nur. „Danke. Tut mir leid wegen dem ganzen Mist, mit dem ihr Jungs euch herumschlagen müsst.“ Er streckte seine Hand aus, und Bruno schüttelte sie stirnrunzelnd.

Troy holte tief Luft, dann drehte er sich zu dem privaten Fahrstuhl um und drückte den Rufknopf. Er würde das hinkriegen. Er musste es tun. Er hatte schon seinen Vater im Stich gelassen, weil er sich nicht durchgesetzt hatte. Er würde ganz sicher nicht noch einmal denselben Fehler machen.

 *

„Du weißt schon – der verschlossene Typ mit der schwarzen Lederjacke. Sagt fast nie was in den Interviews.“

„Das setzt voraus, dass ich jemals Gelegenheit hatte, ein Interview mit … wie heißen die noch gleich?“

Troy saß zusammengesackt in einem Stuhl im Flughafen von Sidney. Es war nach Mitternacht, und er studierte die Spiegelung in dem großen Fenster, das auf die Rollbahn hinaus zeigte. Die Piloten standen ein Stück hinter ihm und redeten leise über ihn. Der Privatjet, den er gemietet hatte, startete von einem kleinen Terminal, das abseits der drei Hauptterminals lag, und es war ihm zum Glück gelungen, sich reinzuschleichen, ohne erkannt zu werden. Die einzigen anderen Leute in diesem Terminal waren Geschäftsmänner, denen es kaum gleichgültiger sein konnte, wer er war, selbst wenn sie ihn erkannt hätten.

Er hatte seine blöde Lederjacke in seinen Riesenkoffer gestopft und stattdessen einen grauen Hoodie angezogen, was eindeutig eine kluge Entscheidung gewesen war. Er zog sich die Baseballkappe tiefer ins Gesicht. Hinter seinem Stuhl befand sich eine breite Säule, und ganz offensichtlich dachten die Piloten, sie wären allein.

Die Frau schlürfte Kaffee aus einem Papierbecher. „Next Up. Bist du sicher, dass du nicht in einer Einsiedlerhöhle lebst? Hast du mich deshalb noch nie zu dir eingeladen?“ Sie aus aus wie eine Filipina, zierlich und hübsch wie seine Mutter. Ihr Akzent klang wie der, den er in Neuseeland gehört hatte – „next“ hörte sich an wie „nixt“.

Troy sah sich in dem verlassenen Terminal um. Es war nervenaufreibend, so ganz allein zu sein; er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal wirklich allein in der Öffentlichkeit gewesen war. Scheiße, er war selbst privat kaum je allein. Es war immer irgendjemand da, sei es eine Freundin oder Ty oder einer der Jungs aus der Band. Oder der endlose Strom von Mitarbeitern des Plattenlabels.

Es hatte Troy nie viel ausgemacht, weil er gern Leute um sich hatte, und insbesondere auch, weil er jedes Mal, wenn er allein war, ins Grübeln geriet. Und wenn er anfing zu grübeln, dann fragte er sich, wie er sechsundzwanzig werden konnte, ohne jemals eine eigene Entscheidung über sein Leben getroffen zu haben. Sein Vater hatte sämtliche Entscheidungen getroffen, und als er starb, hatte das Label nahtlos da weitergemacht, wo er aufgehört hatte.

Troy war mit dem Strom geschwommen. Worüber hätte er sich auch beschweren sollen? Er war Millionär. Was machte es da schon, dass Next Up nicht die Sorte Musik war, die er eigentlich machen wollte?

Er konnte noch immer die Stimme seines Vaters hören: Sei dankbar für alles, was ihr bekommen habt, dein Bruder und du. Das ist der Amerikanische Traum!

Er rieb mit den Händen über seine Schenkel und versuchte, seinen Puls zu beruhigen. Warf er das nun alles weg? Ruinierte er das alles auch für Tyson?

Der männliche Pilot öffnete einen Aktenordner. „Liegst du nicht ein bisschen außerhalb ihrer Zielgruppe, Paula?“

Paula zeigte ihm den Mittelfinger. „Ich bin gerade mal dreißig. Okay, ich bin ein wenig zu alt für Boybands. Aber hey, dreißig ist das neue Zwanzig.“

Der Pilot murmelte stöhnend: „Na toll. Meine Zwanziger waren schon beim ersten Mal nicht leicht zu überleben.“ Sein Akzent klang überraschenderweise amerikanisch.

Troy hatte Glück gehabt, so kurzfristig einen Privatjet zu finden, der international flog. Er sah immer wieder zur Tür und erwartete, dass jeden Moment Joe und seine Kavallerie von Helfershelfern hereinstürmte. Wahrscheinlich glaubten sie nicht, dass er wirklich das Land verlassen würde, aber er sollte trotzdem langsam in die Gänge kommen. Dennoch blieb er wie angewurzelt an Ort und Stelle sitzen, während die Piloten sich weiter unterhielten.

Paula sagte: „Das wird einen ganz schönen Skandal geben. Ihre Welttournee ist noch nicht vorbei. Sie müssen immer noch durch Asien.“

„Du weißt wirklich erschreckend viel über diese Boyband.“ Der Mann sprach mit aufgesetzter Ernsthaftigkeit. „Captain, Sie wissen, dass wir strenge Vorschriften haben, was die sexuelle Belästigung von Passagieren angeht. Nur, um es der Ordnung halber noch einmal offiziell zu erwähnen.“

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und tat so, als würde sie ihm ihren Kaffee über das dunkle, ordentlich geschnittene Haar schütten. Er lachte leise. Beide trugen die Standarduniform, bestehend aus dunkelblauen Hosen und Jacken mit weißen Hemden darunter. Troy fragte sich, wo ihre Kappen waren, während ihm lauter unvollständige Gedanken durch den Kopf schossen.

Gott, es würde wirklich einen Skandal geben. Die Band mochte ihren Höhepunkt bereits überschritten haben, was ihre Popularität betraf, aber sie hatten immer noch Millionen Fans. Bevor er sein Handy abgeschaltet hatte, um der zu erwartenden Flut von SMS- und Voicemail-Nachrichten zu entgehen – von allen außer Tyson, Nick und Savannah – war sein Twitter-Account praktisch explodiert mit Gute-Besserung-Wünschen. Anscheinend hatte Ty auf der Bühne verkündet, dass Troy die Grippe hatte. Aber diese Ausrede würde nicht lange funktionieren.

Vor dem Abschalten hatte er Joe, Greg und Thomas die gleiche SMS geschickt: Ty und Nick sind drogenabhängig. Wenn sie nicht auf Entzug gehen, steige ich endgültig aus der Band aus. Fragt Savannah, wenn sie euch nicht die Wahrheit sagen. Sie weiß, wie ernst es ist. Ich melde mich in Kürze.

Er fühlte sich so schuldig darüber, ein Konzert sausen gelassen zu haben, dass sich ihm der Magen umdrehte. Aber zweifellos hatte er jetzt die Aufmerksamkeit des Plattenlabels. Bis zu ihrer nächsten Show und dem Tourstart in Japan war noch eine Woche Zeit. Troy würde nach Hause fahren, seine Mutter holen und sie mit nach Tokio bringen, damit sie mit Ty redete. Er würde auch Nicks Eltern anrufen. Vielleicht konnten sie sich alle zusammensetzen und gemeinsam auf Ty und Nick einwirken.

Next Up würde die Asien-Konzerte verschieben müssen, was wirklich Scheiße war, weil so viele Leute aus der Familie nach Manila zum Konzert kommen wollten. Aber drogenfrei zu werden, war bedeutend wichtiger.

„Ich frage mich, ob etwas mit seiner Freundin passiert ist. Du weißt schon, Savannah Jones? Sie hat diesen Hit übers SMS schreiben, der einem tagelang nicht mehr aus dem Kopf geht.“

„Ich hatte noch nicht das Vergnügen.“

„Sie sieht super aus. Ein hübsches Paar, die beiden. Er war vorher noch nie so lange mit einer Frau zusammen – schon über ein Jahr. Es hatte ihm so das Herz gebrochen, als Delia Tate wegen James Franco mit ihm Schluss gemacht hat, der Arme.“

Troy verbiss sich das Schnauben. Er war einige Monate lang mit Delia ausgegangen, und es war nett gewesen. Aber als sie sich in Franco verknallt hatte, hatte Troy ihr alles Gute gewünscht. Lara, ihres Zeichens PR-Guru, hatte sich das Märchen von Troys gebrochenem Herzen aus dem Ärmel geschüttelt, was natürlich große Wirkung bei den Frauen dieser Welt gehabt hatte, die ihn alle hatten trösten wollen. Troy war in der Öffentlichkeit noch schweigsamer als sonst schon gewesen und hatte überall Sonnenbrille getragen, sogar in geschlossenen Räumen. Er war sich wie ein echtes Arschloch vorgekommen, hatte aber trotzdem gemacht, was ihm gesagt worden war.

„Okay, wir sind dann startklar.“ Der Mann klappte den Ordner zu. „Sobald unser Passagier und seine Entourage hier auftauchen.“

„Ich bin hier.“ Troy stand auf und drehte sich um. „Keine Entourage, fürchte ich.“ Er ignorierte Paulas errötende Wangen und streckte lächelnd die Hand aus. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“

Er hatte diese Rolle über die Jahre schon so oft gespielt, dass sie zu seiner zweiten Natur geworden war. Immer höflich, ohne zu viel preiszugeben. Ruhig und zurückhaltend. Und das Rampenlicht voll und ganz Ty überlassen.

Sie räusperte sich und schüttelte ihm selbstsicher die Hand. „Captain Paula Mercado. Die Freude ist ganz meinerseits. Das ist mein Co-Pilot Brian Sinclair.“

„Danke, dass Sie das so kurzfristig ermöglichen“, sagte Troy, an den anderen Piloten gewandt. Der schlanke Mann war etwa Mitte dreißig und ein bisschen größer als Troy – wahrscheinlich über eins achtzig. Er hatte einen festen Händedruck und diese ruhige, kontrollierte Haltung, die Troy mit Piloten assoziierte.

Paula sagte: „Ist mir ein Vergnügen. Sie fliegen heute Abend also allein mit uns? Wir sind davon ausgegangen, dass Sie noch ein paar Leute mitbringen. Kümmern wir uns um Ihr Gepäck, und dann kann’s losgehen.“

„Also können wir sofort abfliegen? Es hieß, dass man nicht ganz sicher wäre …“ Gott sei Dank. Bis zum Morgen hätte ihn wahrscheinlich der Mut verlassen, oder Joe hätte ihn doch noch abgefangen.

„Für so kleine Jets gibt es kein Nachtflugverbot, also müssen Sie nicht warten. Wir mussten bloß erst einen Co-Pilot finden, weil es ein Langstreckenflug ist.“ Sie deutete auf Brian. „Zu unserem Glück haben wir den allerbesten bekommen. Viel zu talentiert, um die zweite Geige zu spielen, wenn Sie mich fragen, aber mich fragt ja niemand.“

Brian ignorierte ihre Neckerei, nickte Troy höflich zu und ging dann voran. Troy folgte ihnen durch die hinteren Korridore des Terminals und quer über die Startbahn zu dem wartenden Privatjet. Das alles kostete ihn viel zu viel Geld, vor allem, da er gerade seine Einkommensquelle verloren hatte und höchstwahrscheinlich vom Plattenlabel wegen Vertragsbruch verklagt werden würde. Aber schon der Gedanke, mit einem kommerziellen Flieger nach LA zu fliegen, war unerträglich. Die ganzen Fragen und Fotos wären einfach zu viel. Er musste unbemerkt nach Hause kommen und mit seiner Mutter reden. Sie anzurufen würde nichts bringen – Troy musste dort sein, damit sie sich nicht drücken konnte.

Sie erklommen die wenigen Stufen zu dem kleinen Jet, und er machte es sich im Sitzbereich bequem. Es gab gepolsterte Sessel mit Anschnallgurten in Zweierreihen zu beiden Seiten des Flugzeugs. Er hatte nach dem kleinsten Flugzeug gefragt, das sie hatten, und dieses bot Platz für acht Passagiere. Als das Plattenlabel die Rechnungen übernommen hatte, war er oft in Privatjets geflogen, aber jetzt kam es ihm ein wenig lächerlich und idiotisch extravagant vor, ein ganzes Flugzeug für sich allein zu haben. Er konnte jedoch jetzt nicht mehr zurück. Er wählte einen Fensterplatz und beobachtete das letzte orangefarbene Glühen des Sonnenuntergangs am Horizont.

Die Tür des Cockpits stand noch offen, und Paula rief nach hinten: „Fertig angeschnallt?“

„Ja, danke.“

„Geht in Kürze los.“ Sie schloss die Tür.

Als die Motoren hochfuhren und der Jet in die Startbahn scherte, packte Troy die Armlehnen. Er zog das wirklich durch. Er verließ die Band. Verließ Tyson. Savannah. Die Presse würde ihn bei lebendigem Leibe auffressen. Scheiße, tat er das Richtige?

Es war das erste Mal, dass er eine echte Entscheidung über etwas traf, das wichtiger war als die Frage, ob er lieber Fritten oder eine gebackene Kartoffel wollte. Er hatte nichts gesagt, als man ihm verboten hatte, zum Bowling zu gehen, weil das nicht cool genug oder mysteriös genug für seine Figur war. Als man darauf bestand, den Tod seines Vaters als Herzinfarkt zu vertuschen, hatte er sich den PR-Vorgaben untergeordnet.

Er hatte sich treiben lassen und wie ein dressierter Seehund seine Tricks vorgeführt. Es war an der Zeit, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Er hatte in den letzten Jahren in Hunderten von Flugzeugen gesessen. Vielleicht auch Tausenden. Aber dieses Mal war Troy aufmerksam und achtete auf jedes Detail, als die Räder vom Boden abhoben – das Surren und Einrasten des Fahrwerks, als es in den Bauch der Maschine gezogen wurde, die kleinen Turbulenzen beim Abheben, die Lichter Sydneys, die immer kleiner wurden, während er nun auf Weg nach Hause war.

„Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Oder etwas zu essen? Wir haben Einiges zur Auswahl.“

Troy drehte sich von dem ovalen Fenster weg, an das er seine Stirn gepresst hatte, um trotz der Dunkelheit die Welt vorbeiziehen zu sehen, und blinzelte. Brian stand neben seinem Sitz und trug einen neutralen, höflichen Gesichtsausdruck zur Schau – kein Lächeln, aber auch kein Stirnrunzeln. Troy erkannte dieselbe Maske, die auch er so oft trug, damit er auf Paparazzi-Fotos nicht sauer oder unglücklich aussah. Es hatte einige Jahre gedauert, bis er sich seinen normalen, leicht mürrischen Gesichtsausdruck abgewöhnt hatte.

„Nein, danke. Im Augenblick nicht.“ Er hätte wahrscheinlich etwas essen sollen, aber er war nicht sicher, ob er es bei sich behalten würde.

„Sind Sie sicher?“ Brians Ausdruck blieb unverändert, aber er senkte ein wenig die Stimme. „Sie sehen aus, als könnten Sie einen Drink gebrauchen.“

„Danke, aber es geht mir gut.“ Da Troy er gesagt hatte, er würde keinen Flugbegleiter benötigen, nahm er an, dass dieser Job nun an dem Co-Piloten hängen geblieben war.

„Bitte lassen Sie uns wissen, falls Sie irgendetwas benötigen. Wir werden in Honolulu einen kurzen Zwischenstopp einlegen, um aufzutanken. Möchten Sie eine kurze Führung durchs Flugzeug? Wir haben einen Schlafbereich und natürlich einen Waschraum, Dusche und–“

„Alles gut. Ich brauche nichts. Aber danke.“

Mit einem Nicken verschwand Brian wieder im Cockpit und schloss die Tür hinter sich.

Kurze Zeit später trank Troy eine Flasche Wasser und aß ein paar Kekse, die in einem Körbchen in der kleinen Küche standen. Normalerweise schaute er sich Fernsehshows oder Filme auf seinem iPad an, wenn er im Flugzeug saß. Aber nachdem er es mit drei verschiedenen Folgen von Modern Family versucht hatte, sowie mit einer schrecklichen Serie über Teenager-Seeungeheuer, die Savannah ihm empfohlen hatte, und zuletzt mit einem Science-Fiction-Film, gab er schließlich auf. Er schlüpfte in eine Jogginghose und ein T-Shirt, kuschelte sich in eine der Schlafkojen und zog den Vorhang zu.

Normalerweise trank er nur Bier, aber vielleicht sollte er ein paar von den Mini-Wodkas kippen, um besser schlafen zu können?

Die Erinnerung an den Alkoholgeruch im Atem seines Vaters überwältigte für eine Sekunde seine Sinne. Mit ein paar Extra-Drinks zum Einschlafen hatte damals alles angefangen. Nein, er würde sich an Bier halten.

Troy schloss seine Augen und gab sich große Mühe, an gar nichts zu denken.

*

Mit pochendem Herzen und einem Keuchen auf den Lippen krachte Troy zurück auf die Matratze. Es hatte schon eine ganze Weile Turbulenzen gegeben, aber nicht so etwas. Als das Flugzeug klapperte und erneut absackte, lösten Adrenalin und Furcht die letzten Spinnweben des albernen Traums auf, den er gehabt hatte und in dem es darum gegangen war, dass er irgendwie nicht die Treppe herunterkam. Er griff nach dem Vorhang, der zerriss, als er aus der Koje fiel und auf den Boden knallte.

Anschnallen. Anschnallen! Scheiße. Das Flugzeug drehte sich von einer Seite auf die andere, während Troy zum nächstbesten Sitz kroch und sich hineinzog. Er stemmte seine nackten Füße auf den Boden und riss mit zitternden Hände den Sitzgurt um seine Taille. Er kämpfte mit der Schnalle. Er bekam sie nicht ganz–

Troy krachte auf den Teppich. Schmerz schoss durch seinen Wangenknochen, und seine Hände suchten nach etwas, um sich daran festzuhalten. Das Flugzeug holperte und sprang wie ein altes Auto, das über Schlaglöcher raste. Er unterdrückte einen Schrei. Ein weiteres, heftiges Rütteln warf ihn gegen das Untergestell eines anderen Sitzes. Er zog sich daran hoch, während sich sein ganzer Körper verkrampfte und ihm bittere Galle in die Kehle stieg.

Jetzt schrie er, während er nach dem Anschnallgurt suchte. Troys Finger schlossen sich um ein Ende des Gurtes. Er biss sich auf die Zunge und nahm den Kupfergeschmack von Blut wahr, während er nach der anderen Gurthälfte tastete. Schwer atmend wurde ihm bewusst, dass er in Wirklichkeit gar nicht schrie – es war das Kreischen von Alarmsignalen hinter der Cockpittür.

In Troys Ohren ploppte es. Das Flugzeug sank. Nein, mehr als das, es war im Sturzflug. Gedämpfte Rufe der Piloten mischten sich unter die ohrenbetäubenden Alarmtöne. Sein Herz wollte explodieren. Er konnte nicht atmen.

Los, los, los!

Er hörte kaum das Klicken, als sich endlich der Gurt um seine Hüften schloss. Er zog an der Schnalle und machte ihn so eng, dass seine Schenkel kribbelten. Dann drückte er die Stirn ans Fenster und blinzelte verzweifelt in das erste Licht der Morgendämmerung. Sein Atem ging kurz und keuchend.

Er konnte nur eine einzige, graue Masse sehen. Ein fürchterliches, metallisches Kreischen dröhnte in seinen Ohren, während sie abstürzten. Ich werde sterben!

Er kniff die Augen zu. Bilder von seiner Familie rasten durch seinen Verstand. Mama, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatte ihm in die Wangen gekniffen und gesagt, er wäre zu dünn: „Payat payat ka, no? Kain na tayo!“ Tante Gloria und Onkel Jojo, als sie ihm die Gitarre schenkten, die ihm sein Vater später weggenommen hatte. Papa an einem guten Tag, wie er mit offenem Verdeck die 101 hochgefahren war, während im Radio die Stones liefen. Und er sah seinen kleinen Bruder, der vor Lachen quietschte und sich an seinem Arm festhielt, während sie den Gipfelpunkt einer alten, hölzernen Achterbahn erreichten.

Es tut mir leid, Ty. Ich liebe dich.

Die Luft fühlte sich dünn wie Papier an. Seine Lungen schienen nicht zu funktionieren. Das Flugzeug bebte und gab ein grässliches Geräusch von sich. Die Alarmsirenen heulten. Während sie dem Erdboden entgegen stürzten, tat Troy das Einzige, was noch blieb.

„Vater unser, der du bist im Himmel …“

Copyright © Keira Andrews

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